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AutorenbildRafael Heinen

Erst Vater, dann Wettspiel

Marco Schnydrig musste Minuten vor der letzten Übung in das Spital. Seine Frau Melanie erwartete ein Kind. Ohne Schlaf stand er ein Tag später als ­frischgebackener Vater vor der Jury.


Text: Ramon Jeitziner | Fotos: Jonathan Heldner


In diesem Sommer konnte endlich wieder gefeiert werden. Das vor über zwei Jahren angesetzte Oberwalliser Tambouren- und Pfeiferfest in Stalden konnte nach gefühlt endloser Wartezeit und doppelter Absage im Juni 2022 durchgeführt werden. Alle Anhänger der Ahnenmusik waren voller Freude und Erleichterung, die Situation an sich war für alle speziell – und doch gibt es eine Familie, die sich wahrscheinlich an diesem speziellen Wochenende noch etwas mehr gefreut hat als alle anderen.


Aber alles von Beginn an. Marco und Melanie, verheiratet und bereits stolze Eltern von Emma, bereiteten sich in diesem Sommer auf ihr viertes Familienmitglied vor. Vorausgesagt wurde die Geburt an dem Wochenende, an welchem das Oberwalliser Musikfest in Lalden stattfand. Marco und Melanie besuchten an besagtem Wochenende den Arzt im Krankenhaus in Visp zu einer Kontrolle. Alles war soweit in Ordnung, von einer Geburt in absehbarer Zeit war jedoch noch nicht die Rede. «Alles klar, dann warten wir halt noch», dachte sich Marco und betrat kurz darauf auch schon mit einigen Freunden das Partyareal des Laldner Musikfestes, an welchem ausgiebig gefeiert wurde. Laut Zeugenaussagen kam Marco gegen 5 Uhr nach Hause. Melanie war nicht wirklich begeistert von dieser Aktion. Verständlich natürlich, wenn man beachtet, dass an diesem Wochenende eigentlich der Termin zur Geburt ihres zweiten Kindes im Kalender stand. Sie hat ihm dann kurz, knapp und in geeigneter Lautstärke mitgeteilt, was sie von der Aktion hielt. Um es in walliserdeutschen Sprache auszudrücken: «Schi hedmo d chuttle gwäscho!»


«So mit Uniform im Spital isch im fall eu no vellig speziell.»


Die nächsten Tage über befand sich Melanie, hochschwanger, mehrheitlich zu Hause. Marco war arbeitshalber unterwegs oder bei seiner Frau zu Hause. Was alle wussten: Ein Wochenende nach dem Oberwalliser Musikfest in Lalden stand das Oberwalliser Tambouren- und Pfeiferfest in Stalden im Terminkalender. Die Tage der Woche verstrichen ohne nennenswerte Ereignisse. Am Donnerstag vor dem Oberwalliser in Stalden fand dann die letzte Gesamtübung der Sektion Rhone statt. Melanie war an besagtem Tag mit Stefanie, Sonja und den Kids unterwegs. Marco kam gegen Abend nach Hause, um schnell seine Sachen zu holen und dann, wie es sich als fleissiges Vereinsmitglied gehört, die letzte Übung vor dem Fest zu besuchen. Die eben erwähnte Gruppe befand sich bei ihnen zu Hause, und bei Melanie setzten langsam aber sicher die Wehen ein.


Die Situation war klar wie ein Glas Wasser aus einem Bergbach: Die Zeit für ihr zweites Kind war reif. Marco durfte nun also mit Melanie in das Krankenhaus. Melanie, noch etwas unentschlossen, wollte noch einige Zeit in den eigenen vier Wänden verstreichen lassen, worauf Marco aber bestimmt antwortete: «Wier geh jez, oder ich ga ind Iebig.» Manche nennen es gefühlskalt, andere reden wiederum von einem fleissigen Vereinsmitglied. Marco fuhr daraufhin mit Melanie ins Krankenhaus.


Nach der Eintrittskontrolle befand sich Melanie in einem Zimmer im Krankenhaus in Visp, sie war kurz vor der Geburt ihres zweiten Kindes und ersten Sohnes. Die ganze Nacht über lag Melanie in den Wehen. Aber auch nach dieser langen und anstrengenden Nacht regte sich jedoch nichts. Am Freitag standen wiederum weitere Kontrollen an. Nicht nur die Geburt von Melanies und Marcos zweitem Kind stand vor der Tür: Das Oberwalliser Tambouren- und Pfeiferfest begann an diesem Tag, und Marco war in der Kategorie Solo Duo angemeldet. Zusammen mit seinen zwei Schwestern Carole und Stefanie stand er ein weiteres Mal auf der Startliste der besagten Kategorie. Marco weiss noch, als er freitagmorgens im Krankenhaus war und eigentlich bald losmusste. Die Hebamme meinte gegen 12 Uhr, dass sie in rund ein bis zwei Stunden mit ihrem Sohn rechnen können. «Es hed schi wie giplant agfühlt, am 2 z Chind bercho, de gad heim ga di Trummla holo und ab uf Stalo.» Als Melanie von diesem Plan gehört hat, blieb ihr ein weiteres Mal nichts Anderes übrig, als den Kopf zu schütteln. Die ganze Familie Schnydrig wartete in Lalden seit über einem Tag gespannt auf eine Nachricht aus Visp, und kurz nach 14 Uhr war es dann soweit. Marco schrieb folgendes in den Chat:


«ich bi bereit»

Melanie begab sich nach der Geburt ihres Sohnes in ihr Zimmer im Krankenhaus. Als Mann geht man bekanntlich nicht allzu spät nach der Geburt nach Hause, damit die Frau sich von den Strapazen der Geburt erholen kann. Melanie hatte das auch dringend nötig, nach den 19 Stunden Geburtsvorbereitung, die sie gerade durchgemacht hatte. Locker, wie wir Marco kennen, schrieb er zu seinen Schwestern: «Konzentrieret cha jez ufe Wettkampf!» Er setzte sich in sein Auto und fuhr los. Sein Telefon war durchgehend am Klingeln. Das Baby war also endlich da. Marco, Carole und Stefanie trafen sich wie geplant in Stalden und spielten als die «Drii fam gliicho Näscht» einen soliden Wettkampf.



«Drii fam gliicho Näscht» am Wettspiel in Stalden.


Alles war so wie jedes Jahr, und doch irgendwie nicht. Marco fiel es schwer, die gesamte Situation emotional einzuordnen. Gerade noch bei der Geburt seines Sohnes zugeschaut, stand er nun in Stalden mit seinen Schwestern sowie seiner zweiten Familie, der Sektion Rhone. Für ihn war es ein sehr spezieller Nachmittag. Er durfte durchgehend, manchmal auch mit etwas nassen Augen, Glückwünsche entgegennehmen. Alles war sehr emotional, und für ihn nicht wirklich greifbar.



Marco Schnydrig mit seiner Tochter Emma nach dem Wettspiel am Freitagabend.


Am Samstag stand dann der Einzelwettkampf auf dem Programm. Auch Marco nahm an diesem Teil. Nach seinem Auftritt verabschiedete er sich in Richtung Visp, um Melanie im Spital zu besuchen. Am Nachmittag stand dann der Sektionswettkampf der Tambouren an, an welchem Marco als fleissiger Tambour wiederum teilgenommen hat. Nach dem Sektionswettkampf der Tambouren fuhr Marco ein weiteres Mal nach Visp zu seiner Ehefrau. Zusammen mit Jana, Melanies Schwester, fuhr er abends zurück nach Stalden, um dort mit Freunden und Bekannten der Ahnenmusik den Abend ausklingen zu lassen.


Bekanntlich ist die Zeit, in der man ein Kind erwartet nicht gerade die Zeit, in welcher man jeden Morgen vollkommen ausgeschlafen aufsteht. In der Nacht von Donnerstag auf Freitag schlief Marco gar nicht, von Freitag auf Samstag nur wenige Stunden. Nach einem strengen, jedoch gelungenen Samstagabend schaffte es Marco, gegen 3 Uhr in den letzten Zug von Stalden Richtung Visp einzusteigen. Von Visp aus wollte er dann ein Taxi nach Hause nehmen, um sich zu Hause einige Stunden hinzulegen. Das einzige Problem war, dass weit und breit war kein einziges Taxi in Sicht war. Nach ein paar Anrufen blieb nur die Lösung übrig, die in der Jugend eher als Notlösung galt, die wohl niemand wirklich gerne in Anspruch nimmt, die manchmal aber einfach in Anspruch genommen werden muss: «Hallo Papa, chasch mi z Visp ufom Bahnhof cho holo?» Georges wurde aus dem Schlaf gerissen und das «Taxi Papa» holte Marco in Visp ab.


Am nächsten Morgen stand Marco relativ früh auf, duschte sich und zog die Rhone-Uniform an. Mit seinem Cousin Matthias begab er sich wiederum zu Melanie ins Krankenhaus in Visp. «So mit Uniform im Spital isch im fall eu no vellig speziell. Äs lüegont di ziemli es paar komisch ah, so im Sinn fa: Äs hed appa eu liecht es Rad ab.» Nach dem Besuch fuhr Matthias mit Marco nach Stalden. Körperlich und geistig war Marco schon fitter als an diesem Morgen. Der wenige Schlaf kombiniert mit dem Alkohol liess seinen Körper leiden. Er traf dann in Stalden den Rest der Sektion Rhone und die Zeit verstrich, wie immer an einem Oberwalliser Tambouren- und Pfeiferfest, relativ schnell.


Am Nachmittag machte sich die Sektion Rhone als dritte Sektion auf den Weg zum Umzug. Als der etwas kurze Umzug fast zu Ende war, und die Sektion mit einer Rechtskurve in Richtung Bahnhof Stalden abbog, sah Marco seine Schwiegereltern zusammen mit seiner Tochter Emma. Und dann geschah etwas, das Marco in seinem Leben noch nie geschehen ist: Er hat mitten während des Umzugs angefangen zu weinen. Überwältigt von den Emotionen liess er den Tränen einfach freien Lauf. Die ganze Zeit vor und rund um das Oberwalliser Tambouren und Pfeiferfest war sehr speziell und emotional für ihn. Der Umzug war dann 100 Meter weiter auch schon vorbei. Marco hat schnell, ohne sich von jemanden der Rhone sehen zu lassen, seine Trommel versorgt und ging direkt zu Emma und seinen Schwiegereltern, mit welchen er den Rest des Umzuges schaute, ehe die Preisverteilung stattfand und sich das Fest langsam aber sicher zu Ende neigte.


Marco erlebte an besagtem Wochenende eine aufregende, lange und emotionale Reise. Laut ihm fühlte es sich an wie ein riesiges Drüber und Drunter. Die ganze Situation, alle Geschehnisse dieser Stunden und Tage waren für ihn auch erst im Nachhinein richtig greifbar. An diesem Wochenende kam es für Marco ausserdem zu zwei Premieren: Er sah zum ersten Mal den ganzen Umzug an einem Oberwalliser Tambouren und Pfeiferfest. Und: Zum ersten Mal hatte er einen guten Grund, sonntags erst gegen Mittag zum Verein zu stossen. In diesem Sinne wünscht die Sektion Rhone der kleinen Familie von Marco und Melanie nur das Beste! PS: Die Sektion Rhone freut sich auf zwei neue Vereinsmitglieder.



Dieser Artikel ist zuerst in der Rhonezeitung erschienen und wurde nun online publiziert.



Die Rhonezeitung ist die Vereinszeitung der Sektion Rhone. Die Ausgabe im Jahr 2022 hat 64 Seiten und wurde insgesamt 1'750 mal gedruckt.



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